Die Falschen Dekretalen Pseudoisidors gehören zu einem Komplex kirchenrechtlicher Fälschungen, die um die Mitte des 9. Jahrhunderts auftauchen. Entstanden sind sie wohl im 2. Viertel des 9. Jahrhunderts. Die wichtigsten weiteren Bestandteile des Fälschungskomplexes sind eine Sammlung angeblicher fränkischer Herrschergesetze, die Falschen Kapitularien des Benedictus Levita sowie eine verfälschte Version der sogenannten Hispana, einer Sammlung von Konzils- und Papsttexten, die in der westgotischen Kirche weit verbreitet war.
Auf diesen Seiten finden Sie:
Neu: Der erste (Dekretalen-)Teil der Falschen Dekretalen sowie der 2. (Konzilien-)Teil in abschließender Textgestalt)
Neu: Der dritte (Dekretalen-)Teil der Falschen Dekretalen in abschließender Textgestalt bis zum Brief des Erzbischofs Stephanus an Papst Damasus, in vorläufiger Textgestalt (nach Vat. Ottob. lat. 93) bis zum 6. Damasus-Brief.
Neu: Übersetzung der Capitula Angilramni
Die Falschen Dekretalen haben eine weite Verbreitung gefunden und vor allem im Mittelalter, aber auch bis in das geltende Kirchenrecht hinein, Einfluss ausgeübt. Dennoch ist der Text der Fälschungen bisher nur in unzureichender Weise veröffentlicht. Die erste Ausgabe durch Jacques Merlin aus dem Jahre 1523 (nachgedruckt. u.a. im Band 130 von J.P. Mignes Patrologia Latina) fußt auf einer vergleichsweise späten Handschrift, die die Fälschungen zudem in einer vom ursprünglichen Bestand nicht unbeträchtlich abweichenden Form bietet. Dennoch ist diese alte Ausgabe jedenfalls für einen großen Teil der Falschen Dekretalen der 1863 veröffentlichten Edition von Paul Hinschius vorzuziehen, (Decretales Pseudo-Isidorianae et Capitula Angilramni, Leipzig 1863).
Auf diesen Seiten entsteht ein neuer vorläufiger Text der Falschen Dekretalen Pseudoisidors. Es geht dabei zunächst darum, eine bessere Annäherung an den Text der Dekretalen zu finden. Insofern handelt es sich allenfalls um eine Vorarbeit zu einer neuen Edition. Ein besserer Text, als er sich in den Editionen von Paul Hinschius oder von Jacques Merlin findet, könnte auch anderen Editionsvorhaben eine Hilfe sein. Der Text setzt auch eine Anregung Horst Fuhrmanns zu einer "halbkritischen" Ausgabe um (Wilfried HARTMANN - Gerhard SCHMITZ [Hgg.], Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen [MGH Studien und Texte 31, Hannover 2002, S. 249f.])
Eine deutsche Übersetzung der Fälschungen existiert bislang nicht. Deswegen werden hier auch ausgewählte Stücke in Übersetzung (meist in Auszügen) bereitgestellt. Dieser Teil der Website steckt allerdings noch in den allerersten Anfängen.
Der Weg von einer "halbkritischen" Ausgabe zu einer kritischen Edition der Falschen Dekretalen ist freilich sehr weit. Dies wird auf diesen Seiten deutlich, wenn man die Editionen zweier anderer Fälschungen des pseudoisidorischen Kreises, der Capitula Angilramni und der bisher unbekannten Collectio Danieliana zum Vergleich heranzieht, die auf diesen Seiten ebenfalls angeboten werden.
Zunächst werden für die Falschen Dekretalen 5 Handschriften aus dem 9. Jahrhundert herangezogen. Diese Handschriften sollen die verschiedenen frühen Versionen der Falschen Dekretalen repräsentieren. Es wird sich dabei um folgende, alle aus dem 9. Jahrhundert stammende, Codices handeln:
Vat. lat 630 (V630)
Vat. Ottob. lat. 93 (O93)
New Haven Beinecke Library 442 (N442)
Ivrea Biblioteca Capitolare 83 (I83) sowie Bibl. Vallicelliana D.38 (VD38)
repräsentieren die Kurzversion der Falschen Dekretalen (Hinschius-Klasse A2). Die Handschrift aus der loi immobilier ist auch deswegen von besonderem Interesse, weil sie mehr als 1000 erläuternde Glossen enthält.
V630 repräsentiert die von Hinschius (Decretales Pseudoisidorianae et Capitula Angilramni. Leipzig 1863) sogenannte und von ihm unterschätzte Klasse A/B. Die Folio-Handschift stammt aus dem Kloster Corbie, dessen enge Beziehungen zu Pseudoisidor von Klaus Zechiel-Eckes (z.B. Klaus Zechiel-Eckes, Auf Pseudoisidors Spur. Oder: Versuch, einen dichten Schleier zu lüften, in: Wilfried HARTMANN - Gerhard SCHMITZ [Hgg.], Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen [MGH Studien und Texte 31, Hannover 2002] S. 1-28) betont worden sind, der gezeigt hat, dass einige handschriftliche Quellen der Fälscher aus der Klosterbibliothek Corbies stammen. Die Handschrift ist sorgfältig geschrieben und durchkorrigiert.
O93 repräsentiert die Hinschius-Klasse A1. Da diese Handschrift am Anfang defekt ist (es fehlen die Praefatio, der gefälschte Briefwechsel zwischen Aurelius von Karthago und Papst Damasus I., der Konzilsordo, das Breviarium, die Kanones der Apostel und nahezu der gesamte 1. Clemens-Brief) wird an Stelle dieser Handschrift für diese Stücke die aus dem 10. Jahrhundert stammende Handschrift Angers (A367), Bibliothèque municipale 367 herangezogen, die letztlich von O93 abhängig ist. O93 bietet eine sehr gute Textqualität und ist sorgfältig korrigiert worden. Der Mangel an jedlichem Zierwerk zeigt, dass es sich um eine Arbeitshandschrift handelt. Ein enger Zusammenhang der Handschrift mit der Fälscherwerkstatt ist jedenfalls nicht auszuschließen. Der Konzilienteil von O93 ist stärker interpoliert als der von V630. So finden sich in c. 1 und c. 2 des 5. Konzils von Karthago in O93 typisch pseudoisidorische Einfügungen, die in V630 fehlen (s. Text)
N442 repräsentiert die sogenannte Cluny-Version. Die Handschrift steht in engem Zusammenhang mit der Fälscherwerkstatt (vgl. Karl-Georg Schon, Eine Redaktion der pseudoisidorischen Dekretalen aus der Zeit der Fälschung, DA 34, 1978, S. 500-511). und präsentiert eine sehr gute Textqualität. Auch hier handelt es sich um eine Arbeitshandschrift.
Da alle vier genannten Formen der Fälschung bereits mit handschriftlichen Zeugen aus dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts vorliegen, wird man damit rechnen müssen, dass alle vier Formen in dem Sinne authentisch (sit venia verbo) sind, dass sie alle gleichermaßen unmittelbar auf die Fälscher selbst zurückgehen. Immerhin ist es auffällig, dass zu einem so frühen Zeitpunkt schon so viele verschiedene Versionen in Umlauf waren. Es hat bis etwa zum 11. Jahrhundert – also etwa 200 Jahre – gedauert, bis weitere Versionen hinzukamen. Hinsichtlich der Kurzversion (Hinschius-Klasse A2) kommt hinzu, dass in dem unmittelbar auf die Praefatio folgenden gefälschten Briefwechsel zwischen Damasus und Aurelius von Karthago (Stücke 2 und 3 der nachfolgenden Texte) von einer angeblich von Papst Damasus zusammengetellten Sammlung von Papstbriefen der Nachfolger des Apostels Petrus bis zum Beginn des Pontifikats von Damasus die Rede ist, die Damasus angeblich auf Bitte des Aurelius von Karthago erstellt haben soll - also einer Sammlung, die genau dem Umfang der Kurzversion der Falschen Dekretalen entspricht. Ein anderer Zweck als eben diese Sammlung - also die Kurzversion der Falschen Dekretalen - zu legitimieren, ist in dem Briefwechsel nicht zu erkennen. Hinsichtlich A1 und A/B spricht überdies die unterschiedliche Verfälschungsintensität (s. oben) für den Urprung beider Klassen in der pseudoisidorischen Werkstatt.
Für die echten Stücke der Falsche Dekretalen werden zusätzlich folgende Handschriften herangezogen:
Für Texte aus der Collectio Dionysio-Hadriana:
Berlin Deutsche Staatsbibliothek Hamilton 132 (H132). Diese Handschrift stammt aus Cluny und zeigt deutliche Spuren der Benutzung durch die pseudoisidorische Werkstatt. Die ursprüngliche Hadriana (geschrieben in der ab-Schrift Corbies) ist - vielleicht noch vor der Mitte des 9. Jahrhunderts - in karolingischer Minuskel zu einer Hispana Gallica Augustodunensis umgearbeitet und ergänzt worden. Außerdem finden sich viele Merkzeichen derjenigen Art am Rande, die denen, die K. Zechiel-Eckes (Ein Blick in Pseudoisidors Werkstatt, Francia 28/1, 2001, S. 37ff.) in anderen Corbie Handschriften nachgewiesen hat, die von Pseudoisidor nachweislich benutzt wurden
Für Texte aus der Hispana-Tradition werden neben der Berliner Hamilton Handschrift die Hispana Gallica des Cod. Wien Österr. Nationalbibliothek 411 (Hispana Gallica), sowie der im 9. Jahrhundert in Corbie entstandene Vat. lat. 1341 (wie die Hamilton Handschrift Hispana Gallica Augustodunensis) herangezogen
Zur besseren Benutzbarkeit sind die Quellen vorläufig nach der Ausgabe von Paul Hinschius angegeben. Kleinere Versehen wurden stillschweigend korrigiert. Nur in besonders wichtigen Fällen wurden neuere Forschungsergebnisse bereits jetzt nachgetragen.
Ferner wird die Rezeption der Falschen Dekretalen in den wichtigsten Kanonessammlungen vom 9. Jahrhundert bis zum Dekret Gratians berücksichtigt. Für die Collectio Anselmo dedicata, Regino v. Prüm, Pseudo-Remedius, Burchard v. Worms, die 74-Titel-Sammlung (Diversorum patrum sententiae), Anselm v. Lucca, Deusdedit, Bonizo v. Sutri, Ivos Dekret und Panormia sowie für Gratians Dekret liegen die Forschungsergebnisse H. Fuhrmanns (Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen 3, S. 785ff.) sowie für den Polycarpus des Kardinals Gregor v. San Crisogono die von U. Horst (Die Kanonessammlung Polycarpus, MGH Hilfsmittel 5, 1980, S. 200ff.) zugrunde. Für den ungedruckten Polycarp wurde außerdem ein auf der Website der Monumenta Germaniae Historica verfügbarer Text benutzt (Typoskript von Uwe Horst aufgrund der Vorarbeiten von Carl Erdmann mit einer Einführung zur Internetversion von Horst Fuhrmann).
Die Apparate zu Quellen und Rezeption sind bis zum 1. Fabianus-Brief für die Editionsphase abgeschlossen und werden mit der Zeit vervollständigt werden.
Auch der Text wird nach und nach vervollständigt. Er richtet sich grundsätzlich nach Handschriftenklasse A1 (O93 bzw A367). Andere Handschriften wurden zur Texterstellung herangezogen, so weit A1 offensichtlich unsinnige Lesarten bietet und diese nicht von wenigstens zwei weiteren Überlieferungssträngen gedeckt sind.
Wie oben dargelegt haben die Fälscher vermutlich ihr Werk in mehreren Versionen veröffentlicht. A1 enthält dabei den umfassendsten Text. Die Auswahl einer anderen Version der Fälschungen hätte dazu geführt, dass die Leitklasse u.U. mehrfach hätte gewechselt werden müssen, so dass ein Text entstanden wäre, der so jedenfalls nicht überliefert ist und vermutlich auch nie existiert hat. Zechiel-Eckes hat in Francia 28/1, 2001, S. 69 gezeigt, dass sich bei dem von ihm ebd, S. 71ff. edierten 2. Brief des Papstes Iulius an die orientalischen Bischöfe über 99 % des Textes sichern lassen, wenn man der Übereinstimmung von wenigstens drei der vier aus der Werkstatt der stammenden Klassen A1, A/B, A2 und Cluny-Version folgt. Die hier gewählte Methode, A1 stets dann zu folgen, wenn A1 nicht unsinnige Lesarten bietet, führt im Ergebnis zu kaum einem anderen Resultat. Es kann somit einstweilen dahingestellt bleiben, welcher der vier aus der Werkstatt stammenden Klassen die zeitliche Priorität zukommt. Zechiel-Eckes’ Vermutung, dass der Kurzversion A2 diese Priorität zuzuerkennen sei, ist zwar aufgrund der großen Quellennähe von A2 jedenfalls in disem Brief verführerisch, doch stehen dieser Annahme auch erhebliche Schwierigkeiten entgegen. So kennen wir A2-Handschriften aus dem 9. Jahrhundert (Rom Bibl. Vallicelliana D.38 und Ivrea Bibl Capitolare LXXXIII), die in einigen Punkten Anzeichen einer Ableitung aus einer Handschrift der Langversion (A1 oder Cluny) aufweisen (Nummerierung einzelner Briefe nach dem nur in der Langversion überlieferten und nur dort auch sinnvollen Inhaltsverzeichnis zu Teil III der Falschen Dekretalen). Eine Entscheidung der Frage wird - vielleicht - möglich sein, wenn der Text der Falschen Dekretalen insgesamt konstituiert ist.
Bei den Texten des dritten Teils ist noch mit Textänderungen zu rechnen.
Text und kritischer Apparat des ersten Teils der Falschen Dekretalen (Einleitungsstücke und Dekretalen von Clemens bis Melchiades) sind, was diese Projektphase angeht, abgeschlossen.
Auch für den dritten Teil der Dekretalen wird auf die o.g. Handschriften zurückgegriffen. Die Handschrift von Angers enthält den dritten Teil nicht. Für A1 wird hier voraussichtlich der Vat. lat. 3791 (V3791) heranzuziehen sein, da O93 aufgrund eines Defekts der Handschrift in den Leo-Briefen abbricht und V3791 von O93 abhängig ist. Welche Quesnelliana-Handschrift für die aus dieser Quelle abgeleiteten Stücke des dritten Teils heranzuziehen ist, bleibt noch zu prüfen.
Der Text ist orthographisch vereinheitlicht. Fußnoten zu Textvarianten sind mit fortlaufenden Zahlen nummeriert. Rein orthographische Abweichungen sind nicht vermerkt.
Zur besseren Benutzbarkeit und Überprüfbarkeit sind in den HTML-Texten jeweils am Anfang und Ende jedes Stücks die genauen handschriftlichen Fundstellen angegeben; Seiten- bzw. Spaltenwechsel in den Handchriften sind in <...> im Text vermerkt. Hinweise auf etwaige Korrekturen sind selbstverständlich willkommen.
"Pseudoisidor" ist der übergreifende Name für die umfangreichste und einflussreichste kirchenrechtliche Fälschung des Mittelalters. Entstanden sind diese Fälschungen im 2. Viertel des 9. Jahrhunderts im heutigen Ostfrankreich. Der Gesamtkomplex besteht aus wenigstens fünf kirchenrechtlichen Sammlungen:
1. Eine Verfälschung einer spanischen Sammlung von Konzilien und Papstbriefen des 4. bis 8. Jahrhunderts - die sogenannten Hispana Gallica Augustodunensis nach einer Handschrift aus der französischen Stadt Autun (lateinisch Augustodunum)
2. Eine Sammlung gefälschter Gesetzgebung fränkischer Herrscher des 6. bis 9. Jahrhunderts (Kapitularien) - die sogenannten Capitularia Benedicti Levitae - nach dem angeblichen Autor der sich in der Einleitung zu seinem Werk als Diakon (lateinisch levita) Benedictus bezeichnet. Der Autor behauptet, lediglich die wohl bekannte Sammlung des 829 gestorbenen Abtes Ansegis von Fontanelles vervollständigt und auf den neuesten Stand gebracht zu haben.
3. Eine kurze Sammlung zum Strafprozessrecht - die sogenannten Capitula Angilramni - die angeblich Papst Hadrian I. dem Bischof Angilram von Metz übergeben haben soll.
4. Eine umfangreiche Sammlung von ungefähr 100 gefälschten Papstbriefen, die zum größten Teil von den römischen Bischöfen der ersten drei Jahrhunderte stammen sollen. Ein angeblicher Bischof Isidorus Mercator (daher der Name des Gesamtkomplexes) bezeichnet sich im Vorwort als Autor der Sammlung, die neben den gefälschten Briefen noch eine große Masse von echten (und teilweise verfälschten) Konzilstexten und Papstbriefen vom 4. bis zum 8. Jahrhundert enthält. Letztere stammen zum überwiegenden Teil aus der unter 1. vorgestelltenHispana Gallica Augustodunensis. (ein nach wie vor ausgezeichneter Überblick ist Emil Seckels Artikel in der Protestantischen Realencyclopädie, der auch im Internet verfügbar ist: http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/studien/seck el/pseudoisidor.htm)
5. Eine hier erstmals vorgestellte und veröffentlichte Fälschung, die Collectio Danieliana.
Trotz vieler Versuche, den oder die Fälscher namhaft zu machen, wissen wir bis heute nicht, wer genau hinter den Fälschungen steckt. Kürzlich hat Klaus Zechiel-Eckes einige Indizien zusammengetragen die den späteren Abt von Corbie, Paschasius Radbertus, (842-847) als einen der Schurken im Stück erscheinen lassen. (K. Zechiel-Eckes, Aus Pseudoisidors Spur, Fortschritt durch Fälschungen?, MGH Studien und Texte 31, 2002, S. 1ff.) Sicher erscheint immerhin, dass der Gesamtkomplex zwischen 847 und 852 mehr oder weniger abgeschlossen war, und dass die Fälscher in der Kirchenprovinz Reims gearbeitet haben. Zechiel-Eckes hat auch überzeugende Beweise dafür zusammengetragen, dass die Fälscher Handschriften aus Corbie benutzt haben.
Die bewegte Geschichte des Frankenreiches im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts gibt den Hintergrund für die Fälschungen ab. In den dreißiger Jahren wurde Kaiser Ludwig der Fromme von seinen Söhnen abgesetzt, um seinen Thron kurz darauf zurück zu erhalten. Bei diesen Absetzungen und Wiedereinsetzungen spielten kirchliche Würdenträger schon deswegen eine Rolle, weil sie die Kirchenbuße für das angebliche sündhafte Leben der Herrscher verhängen mussten. Diese Beteiligung an den politischen Wirren hatte nach Wiedereinsetzung des Herrschers für einige von ihnen den Verlust ihrer geistlichen Würde in recht summarischer Form zur Folge. Es ist wahrscheinlich, dass diese Vorgänge in der Entstehungsgeschichte der Fälschungen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Der kirchliche Strafprozesse ist das Hauptinteresse der Fälscher.
Sie lassen ihre Märtyrerpäpste verkünden, dass jeder Ankläger eines Bischofs mit ewiger Verdammung und mit Höllenstrafen zu rechnen habe, dass, sofern es doch einmal zu einer Anklage gegen einen Bischof kommen sollte, der Bischof durch 72 Zeugen gleichen Ranges überführt werden müssen (72 Bischöfe wären im Frankenreich nur schwer aufzutreiben gewesen), dass der Angeklagte sich seine Richter selbst wählen dürfe, dass er zu jeder Zeit an den Bischof von Rom appellieren dürfe - und anderes mehr, was den Prozess unmöglich machen sollte, von einer etwaigen Verurteilung ganz zu schweigen.
Zugleich finden wir eine ausgeprägte Feindseligkeit gegen über den Metropoliten. Deren Handlungen sind den Fälschern grundsätzlich suspekt. Sie dürfen ausserhalb ihrer eigenen Diozese nur in Übereinstimmungen mit ihren Suffraganbischöfen tätig werden. Die Suffragane haben jederzeit das Recht gegen ihren Erzbischof den Papst in Rom um Hilfe anzugehen. Dabei bleibt festzuhalten, dass die römischen Bischöfe des 9. Jahrhunderts noch weit von der Machtstellung ihrer hochmittelalterlichen Nachfolger entfernt waren - von der heutigen Stellung der Kurie in der katholischen Kirche ganz zu schweigen. Zum Teil ist die spätere Stellung der Päpste sogar von pseudoisidorischen Texten beeinflusst worden - eine Folge die den Vorstellungen unserer frommen Fälscher ganz fern gelegen hat.
Weitere Passagen der Fälschungen handeln in konventioneller Weise vom rechten Glauben, vor allem von Fragen der Trinitätslehre, also vom Verhältnis der Personen in der Dreifaltigkeit zueinander. In der Betonung von Dreiheit und Einheit will man neuerdings auch Anspielungen auf die Notwendigkeit der fränkischen Reichseinheit sehen, das ja um die Mitte des Jahrunderts aus drei Teilreichen bestand. Interesse zeigten die Fälscher auch an bestimmten Frage der turgie und der Sakramentenlehre. Ein viel diskutiertes weiteres Thema ist der Kampf gegen die Chorbischöfe, vgl. K. Zechiel-Eckes, Der “unbeugsame” Exterminator? in: Scientia Veritatis, Festschrift Hubert Mordek, 2004. Die schiere Menge an Texten. die die Fälscherwerkstatt hervorgebracht hat, ist beeindruckend. Allein die Dekretalensammlung des Isidorus Mercator die dem ganzen Komplex den Namen gegeben hat, umfasst in der (leider nicht immer zuverlässigen) Ausgabe von Paul Hinschius (Decretales Pseudoisidorianae et Capitula Angilramni. Leipzig 1863) mehr als 700 engbedruckte Seiten. Die "Leistung" der Fälscher wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die Fälschungen nicht etwa frei erfunden sind, sondern mosaikartig aus echten Texten zusammengestückelt sind. Die Fälscher waren ungeheuer belesene Leute. Die Bibel, das römische Recht, fränkische Gesetzgebung, Konzilien, echte Papstbriefe, obskure Diözesanstatute, theologische Schriften, Geschichtswerke und mehr mussten als Steinbruch für die Fälschungen herhalten. Bis heute sind hunderte von Quellen identifiziert, und die Arbeit ist keineswegs abgeschlossen. Emil Seckel hat Jahrzehnte darauf verwendet, die Arbeitsweise der Fälscher zu untersuchen (s. http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/studien/seckel.htm). Dabei haben die Fälscher ihre Quellen keineswegs einfach abgeschrieben, sondern sie mit einer gewissen Artistik immer wieder neu angepasst. Es gibt Sätze von etwa zehn Wörtern, die an verschiedenen Stellen der Fälschungen in nicht weniger als acht verschiedenen Formen auftauchen.
Für etwa 150 bis 200 Jahre war der Erfolg der Fälscher eher mäßig. Einerseits haben sich zwar verhältnismäßig viele Handschriften aus dem 9. und 10. Jahrhundert erhalten - insgesamt kennen wir etwa 100 mehr oder weniger vollständige Handschriften der Falschen Dekretalen vom 9. bis 16. Jahrhundert -, andererseits haben die kirchlichen Rechtssammlungen bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts von den angeblichen Briefen der Märtyrerpäpste nur wenig Notiz genommen.
Dies änderte sich im 11. Jahrhundert. Auch unter dem Eindruck klösterlicher Reformbewegungen einerseits und von Reformbestrebungen mancher Kaiser andererseits bemühte sich eine Gruppe von Kardinälen und eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Päpste ab der Mitte des Jahrhunderts die Kirche von Missbräuchen zu reinigen. Nach einiger Zeit kamen die Reformer in Konflikt mit der weltlichen Gewalt. Die Bischöfe des mittelalterlichen Kaiserreichs hatten wichtige Verwaltungs- und Regierungsfunktionen auszuüben. Sie waren das Rückgrat der kaiserlichen Gewalt. Verständlicherweise versuchten die Kaiser infolgedessen erheblichen Einfluss auf die Auswahl dieser kirchlichen Würdenträger zu wahren. Diese Vermischung von weltlicher und geistlicher Gewalt war für die meisten Reformer eine Todsünde. Hatte nicht schon der Apostel Petrus den Zauberer Simon verflucht, der versucht hatte geistliche Gewalt zu kaufen.
In dieser Situation kamen die Papstbriefe aus den ersten Jahrhunderten aus der Werkstatt der lange begrabenen Fälscher wie gerufen. Das enge Zusammenspiel zwischen Bischöfen und Papst war ein willkommener Beweis dafür, dass die Praxis der Kaiser in eklatantem Widerspruch zu den ältesten und ehrwürdigsten Traditionen der Kirche standen. Die Kirchenrechtssammlungen entdeckten die Falschen Dekretalen neu. Manche bestanden sogar in ihrer Mehrheit aus Auszügen aus den Fälschungen. Die Tendenz hatte sich freilich fast in ihr Gegenteil verkehrt. Hatten die Fälscher noch die Unabhängigkeit der Suffraganbischöfe im Auge, so wurde jetzt aus dem Schutzrecht des Papstes ein Kontrollrecht über die Bischöfe, um sie zunehmend der Weisungsgewalt des römischen Bischofs zu unterwerfen.
Diese Tendenz setzte sich bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts fort, als das Dekret des Bologneser Kirchenrechtsgelehrten Gratian die älteren Sammlungen zunehmend verdrängte. Auch Gratian schöpfte viel Material aus den Fälschungen, allerdings vermittelt durch andere Rechtssammlungen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass er unmittelbaren Gebrauch von den Sammlungen der Fälscher machte. Mit Gratians Dekret, das bald zu einer autoritativen Quelle des Krichenrechts wurde, war die unmittelbare Wirkung der Fälschungen ans Ende gekommen. Von ihnen fabrizierte Texte waren, wie erhofft, zu einer wichtigen Grundlage des kirchlichen Verfahrensrechts geworden. Die Tendenz hatte sich allerdings fast in ihr Gegenteil vekehrt: Nicht die Unabhängigkeit der Bischöfe war erreicht, sondern ihre zunehmende Abhängigkeit vom Papst in Rom.
Eine kaum zu übertreffende Analyse der Geschichte und des Einflusses der pseudoisidorischen Fälschungen bietet H. Fuhrmann, Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. 3 Bde. Schriften der Monumenta Germaniae Historica 24.I-III. 1972-3; s. auch P. Fournier and G. Le Bras, Histoire des collections canoniques en Occident depuis les Fausses Décrétales jusqu'au Décret de Gratien. 2 vols.. Paris 1931-2)
Im Laufe des Mittelalters wurden kaum Zweifel an der Echtheit der Fälschungen laut. Dies begann sich im 15. Jahrhundert zu ändern. Einigen Gelehrten wie dem späteren Kardinal Nikolaus von Kues fielen Ungereimheiten und Anachronismen auf. War es wirklich glaubhaft, dass der Märtyrerpapst Clemens I. die Stellung bestimmter Bischofssitze ausgerechnet damit erklärt haben sollte, dass schließlich auch die Heiden in diesen Städten ihre Hohepriester hätten?
Im 16. Jahrhundert führten protestantische Kirchenhistoriker. die "Magedburger Centuriatoren" schon systematischere Angriffe gegen die Fälschungen. Erst dem kalvinistischen Prediger David Blondel gelang es allerdings die Fälscher zweifelsfrei zu überführen. 1628 veröffentlichte er seinen Nachweis (Pseudoisidorus et Turrianus vapulantes), dass die Papstbriefe Texte von Verfassern zitierten, die erst Jahrhunderte nach dem Tod der angeblichen Päpste geboren waren, und folglich unmöglich echt sein konnten. Katholische Theologen und Kirchenrechtler führten noch einige akademische Rückzugsgefechte, doch spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat kein ernstzunehmender Historiker oder Theologe oder Historiker mehr die Tatsache der Fälschung bestritten.
Die Geschichte der Editionsbemühungen der Fälschungen ist keine ungebrochene Erfolgsstory. Die Hispana Gallica Augustodunensis liegt gedruckt überhaupt nicht vor. Die Sammlung des Benedictus Levita ist mehrfacht gedruckt worden. Die jüngste (immerhin auch schon mehr als 170 Jahre alte) Ausgabe in den Leges in folio of the Monumenta Germaniae Historica (Monumenta Germaniae Historica, Leges in folio vol 2,2, 1831) ist im Vergleich um weitere 150 Jahre älteren Ausgabe von Etienne Baluze (E. Baluze, Capitularia Regum Francorum, vol. 1, 1677, wieder abgedruckt in Mansis Konziliensammlung, Bd. 17A). Wilfried Hartmann und Gerhard Schmitz bereiten eine Neuausgabe vor (siehe http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/). Isidorus Mercator und die Capitula Angilramni sind zweimal von einander unabhängig gedruckt worden. Die Ausgabe von Paul Hinschius (1863, s. oben) ist zwar gelegentlich mit übertriebener Schärfe kritisiert worden, doch hat Hinschius bei seiner Einschätzung der Handschriften völlig daneben gegriffen. Außerdem hat die echten (bzw. nur verfälschten) Teile der Sammlung Pseudoisidors nach den unverfälschten Quellen Pseudoisidors gedruckt, so dass zumindest dieser Teil seiner Ausgabe unbrauchbar ist. Jedenfalls für diese Teile muss jede kritische Untersuchung auf die die Ausgabe von Jacques Merlin aus dem Jahre 1525 zurückgreifen, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Handschrift des 13. Jahrhunderts fußt. (Wiederabgedruckt in J. P. Migne's Patrologia Latina Bd.130).
Die handschriftliche Überlieferung hat Sch. Williams 1973 (Codices Pseudo-Isidoriani: A Palaeographico-Historical Study, Monumenta Iuris Canonici Series C vol 3, 1973) zusammengefasst. Er kommt auf 80 Handschriften, seine Übersicht ist allerdings nicht vollständig.
Die handschriftliche Überlieferung gruppiert sich in wenigstens sechs oder sieben verschiedene Klassen. Die vollständigste ist die von Hinschius als A1 bezeichnete Klasse mit Vaticanus latinus Ottobonianus (s. IX) als dem vermutlichst ältesten und textlich besten Vertreter. Vermutlich genauso wichtig ist Klasse A/B mit dem Vaticanus latinus 630 (ebenfalls s. IX, aus Corbie) an der Spitze. Ebenso hoch ist die Cluny-Version einzuschätzen, von der uns das Originalmanuskript erhalten ist (Yale Beinecke Library 442, nach 858). Ebenfalls noch ins 9. Jahrhundert geht Klasse A2 zurück, bei der eine Entscheidung über die beste Handschrift schwer fällt. Ivrea Bibl. Capitolare 83 und Rom, Bibl. Vallicelliana D.38, beide s. IX aus Oberitalien, stehen mit an der Spitze dieser Klasse. Drei weitere Versionen stammen vermutlich aus dem 11. oder 12. Jahrhundert: Hinschius-Klasse B (z.B. Boulogne-sur-Mer, Bibliothèque municpale 115/116), Hinschius-Klasse C (z.B. Montpellier, Bibliothèque de l'École de Médecine H.3) und schließlich eine Mischform aus der Cluny-Version und der Handschriftenklasse A2, die z.B. in Paris Bibliothèque nationale 5141 überliefert ist.
Die Klassen A1, A/B, B und C überliefern alle drei Teile der Sammlung (erster Dekretalenteil von Clemens bis Melchiades, Konzilienteil und zweiter Dekretalenteil von Silvester bis Gregor II.) wobei der zweite Dekretalenteil in seinem Umfang zwischen A1 einerseits und A/B, B und C andererseits variiert, die Cluny-Version und die zuletzt aufgeführte Mischform bietet beide Dekretalenteile und A2 enthält enthält den ersten Dekretalenteil und den Anfang des zweiten Dekretalenteils bis zu den Briefen von Damasus I., die nur zum Teil in A2 enthalten sind.
Es ist schwer zu sagen, welche Klasse die sozusagen "originale" Fälschung bietet. Die Tatsache, dass A1, A/B, A2 und Cluny bereits kurz nach dem Abschluss der Fälschungsarbeite handschriftlich greifbar sind, könnte andeuten, dass die Fälscher ihr Werk von Anfang an in verschiedenen Versionen in Umlauf gesetzt haben. Zuzutrauen wäre es ihnen.
Der Text dieser Übersicht ist in leicht abgewandelter Form auch in Wikipedia s.v. Pseudoisidor eingestellt
Um Näheres über die Tendenz der CA zu erfahren, die - so E. SECKEL - eine "kleine Strafprozessordnung für das Anklageverfahren gegen Bischöfe" darstellen,[1] empfiehlt es sich, den Gang eines solchen Verfahrens nach den CA darzustellen. Schon im ersten Satz wird jeder Ankläger vor der Anklageerhebung gewarnt: Er klage damit die von Gott verfügte Einsetzung des Bischofs in sein Amt (ordinatio) an (CA 1a).[2] Vor jeder Anklage ist eine gütliche Einigung mit dem Bischof zu versuchen. Sollte der Ankläger diesen Einigungsversuch versäumt haben, ist er selbst zu exkommunizieren (CA 1c), wodurch er anklage- und zeugnisunfähig wird (CA 11 a). Erst wenn der Einigungsversuch misslungen ist, wird die Anklageerhebung zulässig. Die Angelegenheit ist den summi primates in (nirgends näher definierter) kanonischer Weise vorzulegen (CA 3, Z. 31f.). Damit wird bereits vor Prozessbeginn ein unheilbarer Rechtsfehler in das Verfahren eingebaut, der den Prozess gegen den Angeklagten im Grunde schon unmöglich macht, bevor er noch begonnen hat. Die summi primates, mit denen wegen des Plurals keinesfalls der Papst gemeint sein kann, sollen nämlich an einen allen Beteiligten genehmen Ort ein Konzil aller Bischöfe der Kirchenprovinz einberufen, bei dem der ebenfalls zu ladende angeklagte Bischof gehört werden soll (CA 3f). Diese Vorschrift steht im Gegensatz zu einer anderen Norm, wo die singularis auctoritas und privata potestas der Konzilseinberufung dem Papst zuerkannt wird (CA 2a). Die gleiche Stelle schreibt vor, dass ein Bischof keinesfalls von einer Synode verhört werden dürfe, die nicht vom Papst apostolica auctoritate einberufen ist. Es ist zwar möglich, dass die Fälscher hier wie auch an anderen Stellen[3] die Harmonisierung einander widersprechender Vorschriften versäumt haben, andererseits ist es aber auch nicht auszuschließen, dass der Widerspruch mit Absicht stehen blieb, um den Bischofsprozess weiter zu komplizieren und zu erschweren. Wenn die Synode einberufen ist, hat der Angeklagte zwar grundsätzlich die Pflicht, auf ihr zu erscheinen, doch sind die Fristen und Ausnahmeregelungen, die die CA vorsehen, so vage bzw. so weit gefasst, dass der Angeklagte den Prozess praktisch beliebig verzögern kann (CA 3g, 3m und 3n). Besonderes Gewicht wird darauf gelegt, dass die erstinstanzliche Kompetenz allein bei der Provinzialsynode liegt (CA 3f, 3x, 7, 8a, 8b, 9a, 9c, 11a, 16, 17, 25, 26, 27). Diesen beachtlichen Aufwand machen andere Vorschriften jedoch wieder zunichte: Der Angeklagte darf sich seine Richter nämlich frei wählen (CA 3n und 16). Beeide Vorschriften sind miteinander unvereinbar und machen den Prozess wieder unmöglich, denn entweder wird der Angeklagte von allen Bischöfen der Provinz (so ausdrücklich CA 3f, 11a, 17, 25 und 27) gerichtet, oder er darf sich seine Richter selbst wählen. Ein zufälliger Fehler der Fälscher liegt hier nicht vor, denn die selbst gewählten Richter finden sich häufig in den pseudoisidorischen Fälschungen.[4] Will man nicht annehmen, dass die Fälscher ihr eigenes Prozessrecht nicht verstanden haben, dann bleibt nur der Schluss übrig, dass der Widerspruch bewusst eingebaut ist, um das Prozessrecht zu komplizieren und den Prozess zu verhindern. Ein weiteres Hindernis haben die Fälscher mit der exceptio spoliieingebaut: Sollte der Angeklagte seines Besitzes beraubt oder von seinem Bischofssitz vertrieben sein, so ist er von der Synode vor Prozessbeginn in seine Besitztümer und Ämter wieder einzusetzen (CA 3i-l).
Sollte es trotz dieser Hindernisse doch noch zum Prozess kommen, so haben die richtenden Bischöfe die Person des Anklägers zu prüfen, der persönlich anwesend sein muss (CA 3v und 36). Wenn der Ankläger nicht selbst Bischof ist, wird das Verfahren hinfällig, da nur ein mindestens Ranggleicher einen Bischof anklagen kann (CA 18 und 13 ). Selbst wenn diese Bedingung erfüllt ist, ist die Anklage noch nicht ohne weiteres zugelassen, denn eigentlich darf ein Bischof überhaupt nicht angeklagt werden (CA 12bis), und außerdem darf die Anklage von niemandem vorgebracht werden, der von dem Angeklagten geweiht worden ist (CA 15b). Die CA lassen es nicht bei diesen formalen Anforderungen an die Person des Anklägers. Zwar wird nicht wie an anderen Stellen Pseudoisidors die Idoneität des Anklägers verlangt,[5] doch inhaltlich stimmen die CA mit diesen Stellen weitgehend überein. Glaube und Lebenswandel des Anklägers sind zu untersuchen (CA 3a-c, 3p-q, 12 und 13); steht die persönliche Freiheit des Anklägers nicht außer jedem Zweifel, ist seine Klage abzuweisen (CA 13 und 18); wenn der Ankläger selbst in eine Kriminaluntersuchung verwickelt oder vorbestraft ist, ist die Anklage nicht zuzulassen (CA 3r, 14, 31, und 11 a); auch Infame dürfen keine Anklage vorbringen, eine angesichts des Anklageprivilegs der Bischöfe an sich obsolete Vorschrift (CA 3s und 18); schließlich sind alle, die sich bestimmter schwerer Delikte schuldig gemacht haben, von der Anklage ausgeschlossen (CA 10bis).[6]
Am Prozessverlauf selbst sind die Fälscher nur mäßig interessiert. Sie geben verhältnismäßig wenig Auskunft darüber, wie sie sich das Verfahren selbst vorstellen. Der Angeklagte hat jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten (CA 6). Der Prozess muss in einer Kirche stattfinden (CA 10). Die Beweislast liegt beim Ankläger (CA 21). Die Richter sind zu besonderer Sorgfalt (CA 24) und zu Unparteilichkeit verpflichtet (CA 35). Niemand darf in Abwesenheit verurteilt werden (CA 49). Aussagepflicht besteht nur vor dem zuständigen Gericht; vor einem unzuständigen Gericht hat der Angeklagte ein Aussageverweigerungsrecht (CA 3 ). Ein ungerechtes Urteil ist nichtig (CA 2bis und 18bis).
Größeres Interesse zeigen die Fälscher dagegen an dem Personenkreis, der - abgesehen vom Angeklagten selbst - allein eine Verurteilung herbeiführen kann, nämlich an den Zeugen (CA 1bis). Die an die Zeugen zu stellenden Anforderungen sind nicht ganz so streng wie die an die Ankläger: Der Zeuge darf nicht infam sein (CA 13bis, vgl. auch 10bis); er darf mit keinem Prozessbeteiligten verwandt sein (CA 3w); er muss Frau und Söhne haben und fest im Glauben sein (CA 13bis); ein selbst in ein Kriminalverfahren verwickelter Zeuge gilt bis zum Beweis seiner Unschuld als unglaubwürdig (CA 31). Umso höher ist die Zahl der Zeugen, die zu einer Verurteilung erforderlich sind: Zum Schuldbeweis sind es bei einem Bischof 72, bei einem Kardinalpriester 44, bei einem Kardinaldiakon 26 und bei den niederen Weihestufen 7 (CA 13bis).
Das Urteil muss einstimmig erfolgen (CA 17) und gerecht sein (CA 2bis und 18bis). Endet das Verfahren mit einem Freispruch für den Angeklagten, hat der Ankläger harte Strafe zu gewärtigen: Er ist auf ewig exkommuniziert (CA 5bis)[7] und infam (CA 38); er hat ferner dieselbe Strafe zu erwarten, die auf den von ihm behaupteten Verbrechen steht (CA 22). Falls er aus Neid gehandelt hat, wird ihm außerdem die Zunge abgeschnitten, oder er wird gar enthauptet (CA 44b).[8] Diese Drohungen gegen den Ankläger dienen ähnlich wie die Anklagebeschränkungen dazu, die Anklageerhebung weiter zu erschweren. Unter den geschilderten Prozessbedingungen läuft auch jede berechtigte Anklage ein nahezu unkalkulierbares Risiko. Obwohl die Anklage oder gar die Verurteilung eines Bischofs unter diesen Umständen kaum zu erwarten ist, gehen die Fälscher noch einen Schritt weiter und gewähren dem Angeklagten noch ein zusätzliches Recht: Er darf zu jedem Zeitpunkt des Prozesses nach Rom appellieren (CA 17 und 20, vgl. auch 30 und 32).
Nimmt man alle Vorschriften der CA über den Bischofsprozess zusammen, muss man in den Kapiteln eher ein Prozessverhinderungsordnung sehen als eine Prozessordnung.
[1] Seckel, NA 40,1916, S. 43.
[2] Ordinatio ist wohl als der den ordo des Bischofs begründende Akt Gottes bei der Einsetzung des Bischofs zu verstehen und nicht, wie Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands 26, 1952, S. 540 anzunehmen scheint, als die göttliche Ordnung allgemein.
[3] Etwa CA 5, Z. 64f., wo offenbar aus Versehen die Appellation an den Bischof von Konstantinopel und nicht an den Papst wie in CA 17, Z. 108f. stehengeblieben ist. Beide Stellen stammen aus derselben Quelle, c. 17 des Konzils von Chalkedon, wo die Appellation nach Konstantinopel vorgesehen war.
[4] Vgl. etwa Ben. 3,309; Ps.-Viginius, ed. Hinschius, S. 114,23; Ps.-Fabianus, ebd., S.165,21f.; Ps.-Felix I., ebd., S. 202,3; ebd., S. 202,21f.; Ps.-Iulius, ebd., S. 469,14 usw.
[5] Vgl. z. B. Ps.-Anacletus, ed. Hinschius, S. 76,2f.; Ps.-Telesforus, ebd., S.112,lf.; Ps.-Eleutherus, ebd., S. 126,8f.; Ps.-Sixtus II. ebd., S. 193,13-15; Ps.-Iulius, ebd., S. 468,19f.
[6] Die in CA 10bis aufgeführten Verbrechen decken sich mit denen, die Infamie bewirken, vgl. May, Anklagebeschränkungen, S. 110. Die Gleichsetzung von Infamie und Zeugnisunfähigkeit im westgotischen Recht, auf die May, ebd., Anm. 26 im Anschluss an Zeumer, Geschichte der westgotischen Gesetzgebung 2, NA 24, 1886, S. 98f. aufmerksam macht, besteht in den CA nicht. Die CA dehnen die Gruppe der Zeugnisunfähigen weit über die der Infamen hinaus aus, indem sie Zeugnis- und Anklageunfähigkeit schon bei der Verwicklung in eine Kriminaluntersuchung eintreten lassen, noch bevor die Schuld erwiesen ist. Außerdem lassen sie nicht einmal unverheiratete oder kinderlose Zeugen zu, vgl. CA 13bis , Z. 251f.
[7] Die Strafe erschien vielen Abschreibern zu hart, sie wurde daher in zahlreichen Handschriften in Exkommunikation bis zur Todesstunde umgewandelt.
[8] Dem Redaktor von Handschriftenklasse L erschien diese Vorschrift bedenklich. Er setzte als Marginalie hinzu: Hoc capitulum non est canonicum, sed a saecularibus legibus sumptum.